Freitag, 26. Juli 2013

Ach, sagte die Maus

Auch gestern war wieder einmal die „Kleine Fabel“ von Franz-Kafka Thema des Unterrichts, in dem es um Lebensläufe ging. Dieser etwas andere Lebenslauf von Kafka geht so:

„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – `Du mußt nur die Laufrichtung ändern`, sagte die Katze und fraß sie."
"Traurig, traurig", mag der übliche Leserkommentar lauten. Kafka gilt nach langläufiger Meinung als schwierig und sehr pessimistisch. Ich teile diese Meinung ganz und gar nicht. Schaut man sich die „kleine Fabel“ genauer an, entdeckt man eine bemerkenswerte Zweischichtigkeit. Vordergründig betrachtet ist die Geschichte zweifellos traurig.Meine Güte, ja. Betrachtet man den Aufbau der Geschichte handelt es sich sogar um eine typische Trägödie, um eine Geschichte, die gut bzw. hoffnungsvoll beginnt, aber traurig endet. Es siegt das Dunkle, das Schwarze, der unvermeidlche Tod. Das anfangs Positive entpuppt sich im Verlauf der Geschichte als etwas Schlechtes. Zuerst ist die Maus glücklich, in der Ferne Mauern zu sehen, die ihr Halt, Orientierung oder Sicherheit verleihen. Wie es heißt, hatte sie Angst. Doch dieses Glück erweist sich in dem Moment, wo die Mauern aufeinanderzulaufen und sie schon im letzten Zimmer sitzt, als trügerisch. Die schutzgebenden Mauern bedeuten Enge, Begrenztheit oder Isolation und letztlich den Tod. Der Tod wird personalisiert durch die Katze, die in einer ähnlichen Funktion auftaucht wie vormals die schnell aufeinanderzulaufenden Mauern: als Orientierung, wenn sie sagt: „ Du musst nur die Laufrichtung ändern.“ Im Hinblick auf dieses Nacheinander von Mauern und Katze ist eine Steigerung zu beobachten. Während die Orientierung durch die Mauern noch schwach konturiert ist, ist sie durch den Rat der Katze schon klar erkennbar. Nach jedem Halt wird es also schlimmer: auf das vermeintlich Positive folgt das Negative: Nach den Mauern kommen weitere Mauern, die schon lange keine Orientierung und Sicherheit mehr liefern, sondern einsperren oder einengen. Und auf den Rat der freundlichen Katze, von der man eine Rettung aus der Situation erhofft, folgt in Wirklichkeit der Tod. „Du musst nur die Laufrichtung ändern.“, sagte die Katze und fraß sie. Das Böse verkleidet sich im Gewand des Guten wie in dem Bild vom „Wolf im Schafspelz“. Nichts ist, wie es scheint.
Angesichts dieser Entwicklungsskizze, kann man Kafka für pessimistisch halten, wenn man davon ausgeht, dass der Weg, den die Katze nimmt, zwangsläufig oder vorherbestimmt ist. Ich dagegen halte die Geschichte für hochgradig optimistisch. Kafka sagt am Anfang, warum die Maus diesen Weg geht: sie hat Angst. Sie orientiert sich an den Mauern, um ihre Angst zu bewältigen. Sieht man aber, wohin das führt, tut sich unweigerlich die Möglichkeit einer hoffungsvollen Alternative auf. Der Mensch kann und soll seine Angst überwinden, ohne diesen – in den Tod führenden - Mauern folgen zu müssen. So wie jede Fabel am Ende eine Moral anbietet, will auch diese Fabel sagen: Folge deiner Angst nicht, sie ist ein schlechter Ratgeber. Tu nichts aus Angst. - So gesehen, will Kafka dem Leser mit der Beschreibung von den einengeneden Mauern und der todbringenden Katze lediglich die Folgen vor Augen führen, die sich auftun, sobald man der Angst folgt bzw. nach Sicherheiten sucht.

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